Serie - vom leben & vom sterben | Gedanken zu Menschen I.
Be a lamp, or a lifeboat or a ladder. Help someone's soul heal.
Rumi
Ich
möchte hier von Menschen schreiben – Menschen, die mich berührt
haben. Einfach weil sie klasse sind, irgendwie wunderbar, manchmal
etwas überirdisch. Ich denke über die Begegnung mit Ihnen nach, und
sie wird bleiben, ich werde sie nicht mehr vergessen.
Ich
arbeite als Kunsttherapeutin im Rahmen von Palliative Care in
Kliniken. Meine PatientInnen, mit ihren Angehörigen, sind Menschen
mit einem schicksalhaften Leben – sie lassen mich für einen
kürzeren oder auch längeren Moment teilhaben – manchmal darf ich
mehr als eine Therapeutin sein – eine Zeugin, gar eine Freundin.
Manchmal komme ich nachhause und bin so unendlich berührt von diesen
Menschen...es sind weniger die traurigen Momente und Seiten – wie
Sterben und der oftmals kurz bevorstehende Tod – als vielmehr die
großen, weil so lebendigen Momente des menschlichen Daseins. An
ihnen habe ich immer lange zu „knabbern“, von ihnen möchte ich
hier berichten.
+
Brüderchen & Schwesterchen
Heute
begegnete ich einer Schwester, wie ich sie mir immer gewünscht habe,
und nie hatte... sie ist die Schwester von einem etwas jüngeren
Bruder, der bei uns auf der Palliativstation liegt. Ich wurde schon
im Vorfeld behutsam von der leitenden Krankenschwester unserer
Station auf die Begegnung mit diesem besonderen jungen Mann
vorbereitet, durch Bilder von seinem Gesicht – wie er einst aussah
und was mich heute in seinem Zimmer erwartet. Ich muss gestehen, ich
war geschockt, als ich die Bilder sah. Zuerst ein junger Mann mit
leicht verschobener Gesichtshälfte – harmlos, dachte ich, habe ich
schon gesehen. Doch dann das zweite Bild – ich sah etwas, was mal
wie ein Mensch aussah, noch einen Mund, ein Auge und eine Nase
andeutete...und dann war da etwas, was ich noch nie gesehen hatte, es
hatte sich von innen nach außen gekehrt, war seltsam unmenschlich,
eher alienartig...Bilder aus Sciencefiction- oder auch
Psychohorrorfilmen kamen mir in den Sinn...wer David Lynchs „Der
Elefantenmensch“, „Star Wars“ -Wesen von anderen Sternen oder
auch die Orks aus „Herr der Ringe“ gesehen hat, bekommt nun eine
Idee.
Die leitende Oberschwester bereitete türöffnend die Schwester
auf mich und meine kunsttherapeutische Arbeit vor, und wenig später
bekam ich zu hören, dass jene besonders die Arbeit mit der Seele
begrüßen würde. Ein schöner Einstieg – ich fühlte mich gleich
willkommen...
Ich
hatte mich schon am Vormittag bei der Schwester vorgestellt – alles
sehr liebevoll und irgendwie ruhig - gleichzeitig kamen die
Großeltern, und ich sagte, ich würde wiederkommen, wenn die Zeit
passend wäre.
Ein
paar Momente später ging dann die Tür auf und ich konnte eintreten.
Mir kam eine besondere Wärme entgegen, eine innere Wärme und eine
Offenheit, ein inneres Stille-Sein. Ich sah den Bruder, sah ihn
atmen, sah seinen völlig normal aussehenden Körper, seine
porzellanartig, fast weißen und wunderschön grazilen Hände mit
einem Titanring am Finger. Überhaupt schien mir der Körper sehr
fein gegliedert. Ein ästhetisch schöner Anblick. Er war mal sehr
schön, ihr Bruder, sagt sie.
Die
Schwester erzählte mir, dass sie diesen besonderen Bruder schon
immer liebte. Er kam zu früh, ohne genügend Fruchtwassernahrung und
blau auf die Welt. Die Eltern zeigten – um die Schwester zu
schützen – ein anderes Baby. Doch die Schwester sagte nur, sie
wolle ihren Bruder sehen, egal wie er aussehe. Da begann die Liebe.
Sie hält bis heute an und sie ist besonders. Der Film "Gilbert Grape - Irgendwo in Iowa" von Lasse Hallström, kam mir in den Sinn - ich benannte meinen Gedanken, und natürlich kannte die Schwester diesen berührenden Film.
Mir
kamen Tränen. Er musste zweimal in der gemeinsamen Zeit urinieren;
sie war dann mit der „Ente“ da, sagte, warte, halte noch aus –
jetzt darfst Du loslassen und er ließ los. In ihrer Gegenwart ist er
ganz ruhig. Er bekam durch eine große Spritze zu trinken – in die
mundähnliche Öffnung – zuerst Tee, dann, als Belohnung, noch
etwas geschmackvolles Lemonadiges, was er mag. Aber nicht Fanta, das
würgt er wieder aus. Dann saugt sie liebevoll und aufmerksam die
Mundöffnung nach überschüssigen Nahrungsresten ab – lässt ihn
wiederholt schlucken, bis alles abgesaugt ist und es ihm wieder gut
geht. Er äußert sich durch einzelne Worte und Gesten. Manchmal
kommen ihm mehrere Worte, aber man muss schon viel Geduld haben, um
zu verstehen, was er erzähle.
Seine
Haare sind nach der einen Chemo ganz weiß geworden, berichtet sie.
Als Andenken, habe sie welche aufgehoben. Wie Engelshaare sehen sie
aus. Er war immer ihre „Ressourcentankstelle“ gewesen und jetzt
wolle sie dies ihm zurückgeben. In der Pubertät wär' er wild
gewesen, erzählt sie, hat ihm, weil er dachte, Flaschen (Filmrequisite aus Zucker) zerspringen
wie im Film auf Köpfen, eine normale Glasflasche über den Kopf gehauen, die
nicht zersprang. Zwei Tage Kopfschmerzen, zum Glück keine
Gehirnerschütterung. Es ist ihm ein bisschen peinlich, er will nicht
gerne, dass sie es erzählt – doch es gehört zu ihrer beider Leben
mit dazu.
Sie
denkt, er bleibt der Mutter zuliebe, weil sie ihn nicht gehen lassen
kann. Bei diesem Satz bekommt sie feuchte Augen. Die Schwester hat
sich schon vor längerer Zeit verabschiedet und kann ihn gehen
lassen. Sie sagt, sie an seiner Stelle, hätte sich schon lange von
dieser Welt verabschiedet, hätte nicht so lange durchgehalten wie
er. Aber er ist ein Kämpfer, ist er immer gewesen. Er möchte
schließlich noch Anfang August seine Verlobung feiern – ein Datum,
das er sich selbst gesetzt hat.
Mir
kommen Worte wie „Seelenverwandtschaft“ und „engelsgleich“ in
den Sinn und ich spreche sie aus. Ich erinnere sie daran, auch und
mehr denn je für sich selbst da zu sein, und das eigene innere und
auch bedürftige Kind zu nähren – sie weiß das, nimmt es aber
auch gerne an, lässt sich daran erinnern. Vielleicht wird sie eines
Tages ihre Geschichte mit ihrem Bruder aufschreiben, um Andere daran
teilhaben zu lassen. Heute geht das nicht, aber wer weiß... ich höre die meiste Zeit einfach zu, bin da.
Wir
„verabreden“ uns für ein nächstes Mal und gehen unserer Wege.
Sie lächelt mich an und ich merke, es kommt von Herzen. Sie ist da –
sie liebt ihn, bis zum Schluss. Das ist sie ihm schuldig, das Äußere
spielt keine Rolle, das innere Schöne, das sie kennt, zählt. Das
Lachen, die Streiche, die herrlichen Geschichten, die sie derart zum
Lachen gebracht haben, dass sie sich beinahe in die Hose gemacht
hätte...das bleibt, sie weiß das. Obwohl sie ihm auch wünschen
würde, dass er bald gehen kann. Er weiß das, sie ist ehrlich mit
ihm.
Sie
liebt ihn. Das ist wahr. Und er liebt sie. Geschwisterliebe.
Ganz
ehrlich, so etwas habe ich noch nie gesehen und gefühlt....
Danke
für diesen Augenblick!
Gunilla
Göttlicher